Vor Leuten zu singen? Das würde ich mich nie trauen. Meine Stimme ist seit der Schulzeit völlig eingerostet. Zum Glück bin ich heute nur als Beobachter am Departement Musik der HSLU: Ich schreibe eine Reportage über einen Chor für Menschen, die nicht singen können. Vielleicht summe ich ja ganz leise mit… Evi Gallmetzer reisst mich aus den Gedanken heraus: «Du singst auch!», sagt die Chorleiterin bestimmt. Ich widerspreche nicht.
Die Chormitglieder verteilen sich im Raum. Rund 25 Personen sind an diesem Abend anwesend, überwiegend Frauen jeden Alters. Ich lege Stift und Notizblock auf den Holzboden ab und geselle mich zu ihnen. Auf dem Programm steht zunächst eine Runde Aufwärm- und Stimmübungen: strecken, den Körper abklopfen, einfache Tonfolgen nachsingen. Ich treffe die Töne einigermassen. Immerhin.
Alle Menschen können singen – oder?
Ein Chor für Menschen, die nicht singen können. Das klingt im ersten Moment so widersprüchlich wie eine vegetarische Metzgerin. Nicht so für Evi Gallmetzer. Die HSLU-Gesangsdozentin stammt aus einer Tiroler Familie, in der Singen und Musizieren zum Alltag gehören. Der Gesang begleitet sie ihr Leben lang. «Aufgrund meiner Biografie dachte ich immer, dass alle Menschen singen», sagt sie.
Vor einigen Jahren baute Gallmetzer am Departement Musik einen Mitarbeitendenchor auf – und war total überrascht, dass sogar manche Kolleginnen und Kollegen angaben, nicht singen zu können, «an einer Musikhochschule!». Sie fragte sich: Gibt es Menschen, die wirklich nicht singen können, auch wenn keine neurologischen oder physiologischen Defekte vorliegen (siehe Kasten)?
Was ist Amusie?
Wenn wir singen, laufen in unserem Körper zahlreiche physiologische und neurologische Prozesse ab. Unser Hirn muss einerseits die Tonabfolge und den Rhythmus eines Lieds richtig verarbeiten. Andererseits müssen unsere Organe – beispielsweise die Lunge und die Stimmbänder – die Melodie in unserem Kopf auch richtig wiedergeben können. Das funktioniert nicht bei allen Menschen: Rund vier Prozent der Bevölkerung leiden an einer angeborenen Amusie, das heisst, sie können Musik nicht richtig wahrnehmen oder wiedergeben. Ein Schlaganfall kann ebenfalls Amusie auslösen. Evi Gallmetzers Chor richtet sich jedoch nicht an amusische Menschen, sondern an jene, die sich selbst für unmusikalisch halten. Diese Personen haben zwar Mühe, Töne oder Melodien zu halten. Mit den richtigen Atem-, Stimm- und Körpertechniken und viel Übung können sie dies jedoch lernen.
Gallmetzer ging der Frage in einer Studie in Kombination von Musikpädagogik und Psychologie nach: Im Team mit Bastian Hodapp interviewte und unterrichtete sie zwei Frauen und zwei Männer, die überzeugt waren, nicht singen zu können – begleitet von Interviews und Tests im Vor- und Nachfeld, die nicht nur eine detaillierte Evaluation ermöglichten, sondern aus denen auch ein Werkzeugkasten entstand für das Singen mit Menschen, die es sich nicht zutrauen.

Innerhalb von zehn Lektionen steigerte sich bei allen Beteiligten sowohl objektiv die Gesangskompetenz als auch der persönliche Glauben an die eigene Singstimme. Der Erfolg inspirierte Gallmetzer dazu, einen Chor zu lancieren, der sich dezidiert an «Nicht-Singende» richtet. Und während andere Chöre Mühe haben, Singfreudige zu finden, meldeten sich hier in kürzester Zeit 30 Luzerner Teilnehmende an. Im Herbst 2024 begannen die ersten Proben. Die Erfahrung mit dem Singen im Chor ermöglichte es auch, den Werkzeugkasten für Chorleitende zu erweitern. Inzwischen ist der öffentliche Chor, der aus der musikpädagogischen Studie erwuchs, an die Hochschule zurückgekehrt. Diesmal als Lehreinheit für zukünftige Chorleitende.
Erinnerung an den Musikunterricht
Zurück zur Chorprobe. Die Aufwärmübungen sind vorbei und wir widmen uns dem Lied «Die Geige, sie klinget» von Willy Geissler. In mir werden Erinnerungen an den Musikunterricht in der Grundschule wach. Ein Kinderlied. Kurz, aber dafür fünfstimmig. Jede Stimme imitiert ein Musikinstrument: Geige, Klarinette, Trompete, Pauke, Horn.
Eine Gruppe von Musik-Studentinnen und -Studenten übt mit uns alle «Instrumente» nacheinander. Die Studierenden wirken im Rahmen eines Unterrichts-Moduls als Tutorinnen und Tutoren an den Chor-Proben mit. Für sie ist das eine Gelegenheit, ihre didaktischen Fähigkeiten zu trainieren, wie Evi Gallmetzer sagt: «Hier arbeiten sie nicht mit Profis zusammen, sondern mit Laien ohne Vorwissen über Atem- oder Stimmtechniken. Das ist besonders herausfordernd und entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten im Alltag als Chorleitende.»
Eine Pauke hat’s nicht leicht
Nun wird’s wirklich schwierig. Wir sollen das Lied mehrstimmig singen. Also teilen wir uns in Gruppen auf, die jeweils von zwei bis drei Studierenden geleitet werden. Jede Gruppe übernimmt ein Instrument und singt dieses gleichzeitig mit den anderen. Bestenfalls entsteht so ein Quintett, schlimmstenfalls eine Kakofonie. Evi Gallmetzer sitzt am Flügel und begleitet uns.
Ich bin eine «Pauke»: «Die Pauke hat’s leicht, denn sie spielt nur zwei Töne: fünf eins, eins fünf, bumm, bumm, bumm, bumm, bumm». «Leicht» geht anders. Melodie und Text des eigenen Instruments im Ohr zu behalten, erfordert höchste Konzentration. Und der Wechsel zwischen den Tönen muss rasiermesserscharf sein. Ganz anders bei der benachbarten Geige, wo der Übergang zwischen den Tönen fliessend erfolgt. «Lasst die Stimme Achterbahn fahren», ruft Evi Gallmetzer der Geigen-Gruppe zu.
Nach ein paar Versuchen schaffe ich es, die Töne besser zu trennen. Ich schaue mich um. Die Freude am Singen ist bei allen Beteiligten spürbar. Es wird viel gelacht, aber miteinander, nicht übereinander.
Deshalb singen Menschen nicht
Andrea Geile, Teilnehmerin der Studie und Mitorganisatorin des ersten Chorprojekts, bestätigt meinen Eindruck. «Niemand wird hier vorgeführt», sagt sie in einer Pause. «Evi hat ein Talent dafür, uns zu motivieren und aufzubauen.» Sie hat auch andere Erfahrungen gemacht: «Mir hat mal jemand gesagt, ich singe wie ein Chor von Menschen, die sich nicht mögen», erzählt Geile schmunzelnd.

Hinter ihrer humorvollen Anekdote verbirgt sich der wahre Grund dafür, weshalb viele Menschen glauben, nicht singen zu können: Wer Mühe hat, Töne zu treffen, kriegt von seinem Umfeld Sätze zu hören wie «Du kannst nicht singen, lass es sein». «Solche Pauschalkritik tötet die Gesangslust», sagt Evi Gallmetzer. Dabei sei das «ein Schmarrn», so die Dozentin weiter. In einem wertschätzenden Umfeld und unter professioneller Anleitung könnten die meisten Menschen singen lernen. Der Chor ist aus ihrer Sicht der beste Beweis dafür.
Zum Profi wird in diesem Chor allerdings niemand, wie Gallmetzer betont. «Wir bringen den Teilnehmenden lediglich bei, ihre Stimme kennenzulernen und besser zu nutzen.» Sie zieht einen Vergleich zum Schwimmunterricht: «Alle Menschen sollten schwimmen lernen – sie müssen aber nicht gleich bei Olympia mitmachen.» Deshalb hat es auch bisher nie ein Konzert der Nicht-Singenden gegeben: Die Teilnehmenden singen nur für sich selbst. Der Druck öffentlicher Auftritte wurde bisher bewusst vermieden.
Singen gegen den Stress
Die Probe neigt sich dem Ende zu. In meinen Laienohren klingen wir fantastisch. Als der letzte Ton verstummt, applaudiert Evi Gallmetzer und entlässt den Chor in den wohlverdienten Feierabend. Obwohl meine Stimme beansprucht wurde, fühle ich mich beschwingt. Wenn wir singen, atmen wir besser, unser Körper schüttet auch weniger Stresshormone aus. So erklärt es mir die Chorleiterin. Wer singt, tut also sogar etwas für die Gesundheit.
Die Zukunft des HSLU-Chors für «Nicht-Singende» ist trotz seines Erfolgs ungewiss. Für die beteiligten Musikstudierenden läuft das Projekt Ende Semester aus. Evi Gallmetzer prüft derzeit verschiedene Alternativen für die Fortführung des Chors. Sie hofft, dass das Beispiel Schule macht. «In den Randregionen sterben die Laienchöre aus. Vielleicht motivieren derart offene Projekte, die Profis mit Laien verbinden und sich an Nicht-Singerinnen und -Singer richten, neue Leute zum Mitmachen – je mehr, desto besser.» Denn für die Chorleiterin ist klar: «Die ganze Welt soll singen.»