Ein Blinder ertastet neues Terrain

Nagesh Beltramini absolviert an der Hochschule Luzern ein Praktikum in der Musikforschung. Der blinde und hörbehinderte junge Mann gibt Einblick in seinen Alltag und zeigt, wie er kommuniziert.

«Hmm. Das ist, glaube ich, nichts für mich», sagt Nagesh Beltramini. Felix Opel von der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz hat ihn soeben über die neuesten Klicksonar-Geräte und Ultraschall-Armbänder für Blinde informiert. Beltramini bleibt jedoch lieber beim weissen Stock, seiner wichtigsten Orientierungshilfe. Er erhält einen neuen, weil der alte stark abgenutzt ist. 

Die Stockauswahl ist eine Wissenschaft für sich: Es gibt faltbare Modelle oder Teleskopstöcke, Holz- oder Kunststoffgriffe und mindestens ein Dutzend verschiedene Spitzen. Beltramini überlegt lange. «Darf ich mal schauen?» fragt er, und tastet seine zwei Favoriten ab. Das Gewicht und die Art und Weise, wie ihm der Griff in der Hand liegt, geben letztlich den Ausschlag. 

Um Texte ertasten zu können, nutzt Nagesh Beltramini eine Braille-Zeile.

Opel hat Nagesh Beltramini in der Pause an der Hochschule Luzern aufgesucht. Beltramini absolviert seit Herbst 2018 am Departement Musik ein Praktikum. Der 28-Jährige, der mit vier Jahren als Adoptivkind aus Indien nach Rothenburg kam, hat in Luzern Geschichte und in Zürich Musikwissenschaft studiert. Weil er blind und obendrein stark hörbehindert ist, fiel ihm der Berufseinstieg bislang schwer. 

Die Stiftung «Profil – Arbeit & Handicap», die sich für die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt einsetzt, konnte ihm schliesslich nach langer Suche einen befristeten Einsatz bei der Hochschule Luzern vermitteln. Die Lohnkosten übernimmt die IV. 

Einstieg ins Berufsleben

Das Praktikum ist gut angelaufen. In den ersten Monaten hat Beltramini das Programmheft für ein Sinfoniekonzert der Hochschule geschrieben und Texte für das Orgeldokumentationszentrum – ein Archiv zu den rund 3’000 Orgeln in der Schweiz – redigiert. 

Zudem entwickelte Beltramini einen Fragenkatalog zum Thema «Papierloses Büro». Das Feedback auf seine Arbeit sei bisher sehr gut gewesen, sagt Beltramini. «Hilfreich ist, dass meine Kolleginnen und Kollegen, wie ich, neugierig sind. Sie interessieren sich sehr für meine Arbeitsweise und wie ich den Alltag meistere.» Letztendlich möchte der junge Mann wie jeder andere wahrgenommen werden. «Eine offene Kommunikationskultur ist mir sehr wichtig», so Beltramini.

Für seine tägliche Arbeit nutzt er den Computer. Dieser ist mit einer sogenannten Braille-Zeile verbunden, mit der Beltramini Texte ertastet. Zum Tippen nutzt er die normale Tastatur und Dokumente lässt er sich meistens von einer Computerstimme vorlesen. 

«Die Sprachausgabe auf dem PC und dem Handy funktioniert bestens. Zudem kann ich gut mündlich mit meinen Mitmenschen kommunizieren, auch wenn sie ihre Aussagen teilweise wiederholen müssen», sagt Beltramini. Es gäbe natürlich auch schwierige Situationen, etwa, wenn mehrere Personen in einem Raum miteinander diskutieren oder Hintergrundgeräusche die Verständigung erschweren. Hörgeräte sind so ausgerichtet, dass man die Gesprächspartner «anschauen» muss. «Als Blinder halte ich aber lieber ein Ohr hin, da mir das Lippenlesen ja sowieso nicht möglich ist. Dadurch wird es jedoch schwieriger, mich an Diskussionen zu beteiligen, in denen nicht direkt zu mir gesprochen wird. Zudem geht durch Wiederholungen oft die Spontanität des Gesprächs verloren», bedauert Beltramini.

Nagesh Beltramini auf dem Weg zur Arbeit
Nagesh Beltramini übte den Weg zur Arbeit im Rahmen eines Mobilitätstrainings.

Schritt für Schritt

Den Weg vom Bahnhof ins Büro findet er allein. Felix Opel hat mit ihm die Route vor Praktikumsbeginn im Rahmen eines Mobilitätstrainings geübt. An der Mikrowelle in der kleinen Küche wurden ertastbare Markierungen angebracht. Trotzdem bewegt sich Beltramini dort nicht gerne allein, weil die Stühle immer wieder anders stehen. «Ich nehme das meinen sehenden Kolleginnen und Kollegen nicht übel. Sie geben sich in jeder Hinsicht Mühe und helfen mir», so Beltramini. 

Antonio Baldassarre, Leiter Forschung & Entwicklung des Departements Musik, bezeichnet die Zusammenarbeit mit Nagesh Beltramini als echte Bereicherung. «Wir würden diese gerne fortführen.» Eine Festanstellung ist momentan jedoch nicht möglich. Der Grund: In der Forschung ist ein Grossteil aller Anstellungen an Projekte gebunden, also auch die Jobs von Mitarbeitenden ohne Beeinträchtigung. Baldassarre: «Wenn wir in naher Zukunft genügend Mittel generieren für Projekte, in die auch Nagesh passt, könnten wir ihn weiterbeschäftigen.» Vorerst heisst es also: Daumen drücken!

Integration: Chance und Herausforderung zugleich

«Die Integration von Menschen mit Handicap in einen Betrieb stellt ein Team oft vor unerwartete Herausforderungen», sagt Tobias Hasler, Leiter der Regionalstelle Zentralschweiz der Stiftung «Profil – Arbeit & Handicap».
Mit einem Mitarbeiter im Rollstuhl muss der Betriebsausflug ganz anders geplant werden. Wird eine Frau mit psychischen Problemen angestellt, brauchen die Mitarbeitenden genügend Informationen, um mit den Beeinträchtigungen der neuen Kollegin richtig umgehen zu können. Blinde können darauf angewiesen sein, dass jemand die Dokumente, die sie bearbeiten sollen, für sie einscannt. «Wer im Team übernimmt die Verantwortung dafür? Kann ich auch nein sagen, wenn ich Hemmungen habe, zu helfen?» Solche Fragen müssen laut Hasler sorgfältig geklärt werden, denn nur so könne die Integration eines Teammitglieds mit Handicap langfristig gelingen. Die Stiftung Profil begleitet deshalb Betriebe während der Einarbeitung.
«Es gibt leider Integrationsvorhaben, die scheitern», sagt Hasler, «aber wenn sie gelingen, stärkt das ein Team und die Identifikation mit dem Arbeitgeber sehr.»

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